„Panta Rhei  – Alles fließt“

Im Fluss

Vor Millionen Jahren falteten sich die Berge in der Rheinischen Tiefebene auf. Magma aus unterschiedlichster Zusammensetzung schoss an die Oberfläche, erkaltete und bildete Gesteine.  Eiszeiten, Wind und Regen brachten die Steine in Bewegung, brachen sie, schliffen sie, rundeten sie ab und beförderten sie ins Tal.

Im Schwarzwald hat es letzte Woche geregnet. Regenwasser ist in die Erde eingedrungen und  durchläuft dort verschiedene Bodenschichten.  An anderer Stelle tritt es als Quelle wieder an die Oberfläche und fließt bergab, erst in den kleinen Bach und dann in den Fluss, die Dreisam.

Im Nordatlantik, bei Island,  hat sich gestern ein Tiefdruckgebiet gebildet und drängt kühle Luft über das europäische Festland nach Nordosten.  Seine Ausläufer schieben ein lockeres Wolkenband vor sich her. Der auffrischende Wind weht ein kleines gelbes Blatt von den Ästen der Erle am Ufer in den Fluss.  

In der Sonne verschmelzen Wasserstoff-Kerne zu Helium. Energie in Form von Licht wird frei und bewegt sich durch den Weltraum. Acht Minuten später erreicht ein Lichtstrahl die Erde und bricht durch die Wolken.

Ein Fotograf steht in der Dreisam und kniet sich ins Wasser. Er beobachtet die Farben der Steine am Grund, das Spiel der Wellen im Wind, den Tanz des Sonnenlichts.  Er sucht die beste Perspektive,  wartet auf den richtigen Augenblick. Ein kleines, gelbes Blatt verfängt sich unter einem bunten Stein, ein Lichtstrahl wird durch eine Welle gebrochen und huscht über den Flussgrund – er drückt auf den Auslöser.

 

Eine Millisekunde

Eine Millisekunde lang öffnet sich der Verschluss der Kamera und wirft das empfangene Licht auf den Sensor.  Eine Millisekunde ist nicht viel – es ist 1/1000 Sekunde.  Eine Minute beinhaltet 60.000 Millisekunden, ein Tag, 86 Millionen. Wenn es überhaupt so etwas wie einen Augenblick gibt,  dann ist eine Millisekunde eine ganz gute Einheit dafür. 

Das Foto, das daraus entsteht, dokumentiert  das zufällige, chaotische  Zusammentreffen von Steinen, Blättern, Wasser, Wind und Sonnenlicht in diesem Moment.  Diesem einzigartigen Augenblick, der in seiner tiefgreifenden Schönheit ebenso unverwechselbar und unwiederholbar ist, wie  in seiner beiläufigen Flüchtigkeit. Genauso, wie jeder Moment an jedem Ort, zu jeder Zeit. „ Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln“, beschrieb Platon dieses Grundphänomen unseres Daseins.

Nur der Fotograf kann für eine winzige Zeitspanne den natürlichen Fluss der Dinge anhalten. Er entreißt der Vergänglichkeit diese eine Millisekunde und gießt ihr Licht in ein Bild. Eine, für unser Auge kaum sichtbare Banalität, nämlich das Funkeln eines Lichtstrahls auf dem Grund eines Flusses, bekommt plötzlich ein Form. Damit holt er die zuvor völlig unbemerkte und unscheinbare Schönheit aus ihrem Schattendasein und hebt sie auf die große Bühne.  „Seht her“ sagt sie dort, „so banal bin ich gar nicht„.